Dienstag, 27. Mai 2008

Double-bind und Mystifizierung

Mystifizierung

Ronald D. Laing nennt das 'verrückt'-machende Verhalten Mystifizierung. Mystifizierung und double-bind sind verwandte Begriffe, beide drücken aus, dass das Opfer verwirrt wird, während ihm gleichzeitig die Möglichkeit, sich aus eigener Kraft aus dieser Situation zu befreien, verbaut ist. Der Unterschied besteht darin, dass dem Mystifizierten von seinen Eltern ein einziger Weg der Erfahrung und des Handelns offen gelassen wird; dieses 'richtige' Fühlen, Erleben und Handeln widerspricht jedoch den Gefühlen der betroffenen Menschen. Mystifizierung meint einen Umgang, bei dem auf die eigenen Erfahrungen in keiner Weise eingegangen wird, dass die ganze Unstimmigkeit durch die Betroffenen aufgedeckt werden kann. Die Verwirrung wird auf eine Art und Weise ausgelöst, dass das Opfer der Situation gar nicht die Möglichkeit hat, seinen Zustand der Konfusion selber zu erkennen. Schon die Erkenntnis der Tatsache, verwirrt zu sein - als Reaktion auf den elterlichen Eingriff, würde einen riesigen Schritt in Richtung einer persönlichen Autonomie bedeuten, einen riesigen Schritt dahin, sein Leben, sein Schicksal früher oder später wirklich selber bestimmen zu können - unabhängig von 'krank'-machenden Angehörigen oder Institutionen. Mystifizierung gibt es; es gibt Eltern, die alles besser wissen, die für das Kind entscheiden, ob etwas gut, schlecht, schön oder gesund sei. Es gibt Eltern, die in diesen Dingen Druck aufsetzen, so stark, dass das Kind dann wirklich 'glaubt', dass ihm dies oder das gut tue, dass es wirklich müde sei, dass es sich wirklich schonen müsse, dass ihm die betreffende Kleidung wirklich gefalle... Ja, dem mystifizierten Kind bleibt nichts anderes übrig, als zu 'glauben', dass die Schläge, die Verbote, das eingesperrt sein im dunklen Keller wirklich zu seinem Besten geschehen. Eltern machen bekanntlich alles aus 'Liebe', bemühen sich darum, dass das Kind einmal sehr glücklich werde - auch wenn sie quälen und strafen. Das Kind hat sich zu fügen, es fürchtet den drohenden Liebesentzug; deshalb sind die Sieger in diesem Kampf von vornherein klar. Doch dieser Kampf hat für das Kind bis in sein erwachsenes Leben weitreichende Folgen. Es kann so niemals lernen, auf die eigenen Gefühle zu vertrauen, was in ihm selber vorgeht muss es unterdrücken, darf es nicht wahrnehmen.
Mystifizierung kann nur stattfinden, weil Kinder auf ihre Eltern existentiell angewiesen sind, ausschliesslich ihnen ausgeliefert sind. Sobald weitere vertraute Bezugspersonen leicht erreichbar sind, hat das Kind die Möglichkeit, andere, die Meinung der Eltern ergänzende Ansichten zu hören und zu erfragen. So fällt es ihm viel leichter, seinen eigenen Gefühlen und Meinungen zu vertrauen.
Diese Überlegungen ändern natürlich nichts am grundlegenden Bedürfnis von Kindern, Menschen um sich zu haben, auf die sie sich absolut verlassen können: Menschen, die sie akzeptieren so wie sie sind, und ihnen echte Zuwendung und Zärtlichkeit geben, genau so, wie sie es nötig haben. Die Erwachsenen sind für die Kinder da, keineswegs aber die Kinder für die Erwachsenen: 'Ich bin für dich da, wenn du nach mir verlangst; willst du dagegen in Ruhe gelassen werden, verschwinde ich.' So könnten Eltern eine sinnvolle Haltung ihrem Kind gegenüber in Worte fassen...
Mystifizierte sind wir alle in einem gewissen Mass; was uns von den 'manifest Erkrankten' unterscheidet, ist nur das Ausmass der während unserer Kindheit erlittenen Mystifizierung. Die Eltern betreiben das betrübliche Spiel natürlich mit einem - ihnen nicht voll bewussten - Ziel. Sie wollen damit erreichen, beispielsweise, dass sie das Kind in Ruhe lässt; das können sie und wollen sie aber nicht zugeben. Also wird ein Grund konstruiert, etwa dass das Kind ins Bett müsse, um sich zu erholen, obwohl es vielleicht noch hellwach ist. Das eigene Interesse der Eltern wird verleugnet.


Mystifizierte sind manipulierbar

Es ist kaum erstaunlich, dass Menschen, die als Kinder nicht einmal entscheiden konnten, ob sie nun müde waren oder nicht, als spätere Erwachsene dann nicht in der Lage sind, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche wahrzunehmen. So lassen sie sich von den 'Hohepriestern' unserer Konsum- und Leistungsgesellschaft willig manipulieren - oder sie werden 'manifest psychotisch'. Der 'manifeste Ausbruch' einer 'Psychose' kann als Unglücksfall verstanden werden - die Erziehung zum manipulierbaren, modernen Staatsbürger ist etwas überbordet. Der Mystifizierte zweifelt nicht nur und immer mehr an seinen Wahrnehmungen über seine eigene Person; auch seine Wahrnehmungen anderer werden zwangsläufig immer diffuser und verzerrter; seine Peiniger verstecken sich ja stets hinter einer undurchdringlichen Maske, zeigten nie ihre wahren Gefühle, widersprachen sich laufend; so ist auch klar, dass das Opfer mit der Zeit völlig unfähig wird, andere Menschen gefühlsmässig einzuschätzen. Und genauso wird es für den mystifizierten unmöglich, die täglichen Botschaften der Medien, wie auch den Lehrstoff in Schule und Lehre kritisch zu hinterfragen und gefühlsmässig einzuordnen.


Freiheit, Freiwilligkeit und Offenheit als Ziel

'Mystifizierend' und 'doppelbindend' ist die bei uns weit verbreitete, ja geradezu typische Eigenart, nicht ehrlich und offen zu sein. Ein jeder versucht, sich wenn immer möglich als wohlmeinend, gutmeinend, hilfreich, lieb und freundlich darzustellen; wer gibt denn freiwillig eigennützige Interessen zu ? Wer bekennt offen, dass er andere übervorteilen und ausnützen will ? Doch all dies machen wir täglich und möchten dennoch vor dem anderen gut dastehen, von ihm geschätzt und geliebt werden. Das gilt für Partnerschaften und für Psychotherapien, im Grund gilt es immer, wenn Menschen zusammentreffen. Offenheit und Ehrlichkeit - auch auf das Risiko hin, zu verletzen - könnten beitragen zu einer 'Gesundung' unserer Gesellschaft, zur Vermeidung der fortwährenden 'Fabrikation' von Unsicherheit und 'Wahnsinn'. Das Argument für Unehrlichkeit, dass man den anderen damit schonen wollte, ist ein Scheinargument; es ist nicht der andere, der damit geschont wird, sondern es ist der Unehrliche selber, der sich vor unzufriedenen Reaktionen schützt. Egoismus ist nicht 'krank'-machend, hinter einer falschen, heuchlerischen Maske verborgener Egoismus dagegen ist es wohl. Die bis in die Tiefen der Persönlichkeit sich auswirkende Unsicherheit, in die die Unehrlichkeit des anderen einen stürzt, ist weit schwieriger zu ertragen und mit viel grösserem Leid verbunden als eine klare, direkte, wenn auch negative oder ablehnende Gefühlsäusserung. Sie bereitet klar begründbaren und verständlichen Schmerz, jene lässt das Opfer an sich und der Welt zweifeln, verhindert klare Erkenntnis über sich und die anderen und führt letztlich zu Orientierungsverlust.


Die Bedeutung des 'akuten, psychotischen Schubs'

Der intensiv mystifizierte Mensch - ob er nun bei seinen Eltern, mit anderen Menschen zusammen, oder in der Klinik lebt - ist in seiner Isolation gezwungen, sich immer vollständiger auf die Signale, Botschaften und Bestimmungen seiner Kontaktperson auszurichten. Der akute Ausbruch bedeutet eine vollständige Umkehr des Verhaltens des 'Patienten'. Sein Verhalten im 'Schub' macht jedem klar, dass da keineswegs die Erfüllung der Wünsche anderer angestrebt wird. Der 'Schub' richtet sich deutlich gegen die näheren und bestimmenden Bezugspersonen des Opfers. Der 'Schub' bedeutet aber nicht nur Revolte, er bedeutet auch Resignation; er signalisiert, dass der 'Patient' die Hoffnung aufgegeben hat, je einmal zu erreichen, was von ihm verlangt wird. 'Ich bemühe mich nun seit langem angestrengt, eure verwirrenden und widersprüchlichen Wünsche zu erfüllen; doch offenbar wird es mir nie gelingen, euch zufriedenzustellen; noch immer behandelt ihr mich als hilflos und krank; dies wird sich offensichtlich nie mehr ändern, ja es nimmt sogar laufend zu. Ich gebe auf; wenn es mir schon nicht gelingt, euch zufrieden zustellen, dann zeige ich euch, wie sehr ihr mich im Grunde ankotzt; die Zeit meiner Rücksichtnahme ist beendet, von jetzt an zeige ich mein wahres Gesicht.' So ungefähr könnte der 'Patient' den Ausbruch des 'Schubs' begründen.


Psychopharmaka-'Therapie' - extreme Form von double bind und Mystiifizierung

Nachdem durch die Tatsache der Hospitalisierung das Vertrauen des 'Patienten' in seine eigenen Wahrnehmungen und Gefühle noch weiter untergraben wurde (ähnlich schwierige Situationen musste er ja schon seit langem in seiner Familie erleben), verschärft die sofortige Gabe von Psychopharmaka seine unerfreuliche Lage massiv: 'Wir wollen dir helfen, zu dir und deinen Gefühlen vorzustossen, eine eigene Identität aufzubauen', behaupten 'fortschrittliche' Psychiater und geben gleichzeitig dem 'Patienten' Psychopharmaka (oder Elektroschocks), was erstens das Gefühl und die Angst des Opfers, 'krank' zu sein, bestätigt und zweitens jegliche Gefühlswahrnehmung weg dämpft. Besonders gefährlich sind die so genannten Neuroleptika. Neuroleptika wirken direkt schädigend am Gehirn, sie unterdrücken die Gefühlswahrnehmung, verändern grundlegend die Persönlichkeit der 'Kranken' und lassen sie abgestumpft und abgebaut erscheinen. Für den schon vor seinem ersten Kontakt mit der Psychiatrie an sich und seinen Gefühlen zweifelnden Menschen ist diese Medikamentenwirkung verheerend; er wird damit manipulierbar und wirklich, oft dauernd auf fremde Hilfe angewiesen.
Die Gabe von Psychopharmaka zur 'Behandlung' von psychischen 'Störungen' erzeugt einen echten double bind. Einerseits wird vom 'Patienten' eine 'Besserung' seines Zustandes erwartet, ein Aufwachen aus Verwirrung und Orientierungsverlust, andererseits wird ihm deutlich gezeigt, dass dies ohne die 'Hilfe' der Medikamente nicht gelingen kann. Der Rückfall nach Absetzen dieser 'Behandlung' ist also vorprogrammiert - ein Rückfall in eine schwierige Situation: Der Eingriff der Psychiater verwirrte zusätzlich, und die ursprüngliche, 'verrückt'-machende Situation besteht unverändert weiter.
Nach der Einnahme der sein Gefühlsleben unterdrückenden Medikamente ist der 'Patient' oft wieder in der Lage, den Ansprüchen seiner Umgebung - die ihn eben nicht als selbstsicheren, selbständigen Menschen und auch nicht als Rebellen akzeptieren will - zu genügen; er wird die ihm angedichteten Gefühle, Ängste und Hemmungen als die eigenen erkennen; und er wird sein Handeln, Leben und Fühlen wieder vollständig auf die anderen ausrichten, ohne dass sich seine eigenen Bedürfnisse und Wahrnehmungen störend einschalten können. Auf den ersten Blick mag die medikamentös vermittelte Beruhigung der Situation als eine Besserung erscheinen. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Pseudobesserung.
Es ist sehr schwierig, eine Psychopharmaka-'Behandlung' zu beenden. Neuroleptika-'Behandlungen' bei 'Schizophrenen' werden von vielen Ärzten von Anfang an als Dauermedikation geplant und durchgeführt. Falls es nun in diesem Stadium der Pseudobesserung 'gewagt' wird, die Medikamente abzusetzen, wird vom 'Patienten' natürlich weiterhin 'Symptom'- Freiheit verlangt. Doch diese 'Symptom'-Freiheit - die nicht anstossende Anpassung, die Ausrichtung seiner Handlungen auf die Erwartungen der anderen - konnte er nur unter dem Einfluss der medikamentösen Zwangsjacke erbringen. Wie sollte ihm, ohne die gefühlsunterdrückende Wirkung der Psychopharmaka, dieser 'Symptom'-freie Zustand möglich sein ? Die Tatsache des 'psychotischen' Ausbruchs hatte sehr deutlich - als Aufschrei - gezeigt, dass er so nicht mehr leben konnte. Nach der Hospitalisation und der Psychopharmaka-'Behandlung' ist dies noch unwahrscheinlicher. So werden denn von den Psychiatern nach 'Absetzversuchen' der Medikation schnell und fleissig Rückfälle 'diagnostiziert', was selbstversändlich als 'Indikation' für die erneute Verabreichung von Psychopharmaka, meist in noch höherer Dosierung, gilt.



Auszug aus:

Marc Rufer: Irrsinn Psychiatrie. Zytglogge Verlag, Bern 1997, ISBN 3-7296-0536-4

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